(Story-Idee mit 20 Jahren – Während einer Zugfahrt)
„Hoffentlich erwische ich den Zug nach Hause noch“, denke ich, blicke auf die große blaue Abfahrtsanzeige am Ende der Bahnhofshalle und gehe etwas langsamer, um alles besser lesen und erkennen zu können. „Ah, Glück gehabt. Noch 5 Minuten“, merke ich und entscheide: „Eine Stunde Zug fahren, ohne etwas zu lesen, das geht gar nicht.”
Zügig gehe ich zur Bahnhofsbuchhandlung, ein paar Meter rechts vom Bahnhofseingang und betrete sie, wie so oft nach der Arbeit in den letzten Wochen. Ich blicke zur Kasse, die sich im Eingangsbereich befindet, und auf die Tageszeitungen, die dort ausliegen.
Eine Schlagzeile sticht mir besonders ins Auge. „Flugzeugabsturz. Berlin. Über 70 Tote…“
In der Hoffnung auf eine bessere Lektüre lenke ich meinen Blick nach links. In einem nahegelegenen Regal sehe ich, was ich erhoffe: Meine Lieblings-Computerzeitschrift, und zwar die neue Ausgabe vom Januar 1987.
Zufrieden lächelnd hole ich mir ein Exemplar und gehe damit zur Kasse, wo mir das Lächeln vergeht – zwei Kunden sind vor mir dran. Ich greife in meine Hosentasche, nehme einen Geldschein raus und warte. Nervös schaue ich auf meine Armbanduhr. Die Zeit drängt.
Endlich kann ich bezahlen, stürme dann in Richtung Bahnsteig 1 und gehe hektisch die Treppe hoch. Kurz bevor ich oben bin, höre ich die Trillerpfeife des Schaffners und werde langsamer. Der Zug fährt ohne mich los und ich bleibe stehen. Ich schaue ihm nach, schüttle den Kopf und schnauze: „Selbst schuld”.
Und plötzlich wird mir eine negative Folge meiner Schusseligkeit bewusst: Meine neue Freundin will mich am Bahnhof abholen. Wir wollen essen gehen. Und nun?
„Ich werde sie gleich anrufen”, entscheide ich und gehe langsam die Treppe hinunter zur Bahnhofshalle.
Ich weiß dass der nächste Zug in ungefähr 30 Minuten kommt, schaue auf den Fahrplan und der bestätigt es. Zeit habe ich genug. Ich gehe wieder zum Zeitungsladen.
Vor der offenen Glastür denke ich: „Reingehen mit der Zeitschrift ist nicht gut” und halte inne.
Wieder sehe ich die Tageszeitung an der Kasse liegen. Ich drehe mich um. Gelangweilt schaue ich durch die Halle und beobachte die Reisenden oberflächlich. Plötzlich muss ich an den Flugzeugabsturz denken.
„Müssen die letzten Minuten oder Sekunden nicht schrecklich für die Passagiere gewesen sein? Was für ein Geschrei und Chaos.”
Bilder, blutrünstig wie aus einem Katastrophenfilm, rasen durch meinen Kopf und das, obwohl ich von klein an den Anblick von Blut nicht ertragen kann.
Dennoch frage ich mich: „Was würde geschehen, wenn jetzt eine Durchsage über die Lautsprecher des Bahnhofs ertönen würde? Etwa so: „Bombenalarm. Bahnhof sofort verlassen“. Dabei grinse ich schäbig vor mich hin. „Die Panik würde ich gerne sehen.”
Sekunden später erschrecke ich mich über meine Fantasie und mich selbst und schüttle den Kopf. „Was für irrsinnige Hirngespinste habe ich denn?“
Ich schlendere zum Bahnhofsausgang und betrete den Bahnhofsvorplatz, auf dem, wie ich weiß, Telefonzellen stehen.
Ich gehe zur ersten und wähle die Rufnummer meiner Freundin. Ihr Telefon klingelt. Es klingelt lange, aber sie meldet sich nicht. Ich entscheide, dass ich es später noch einmal versuchen werde und verlasse die Telefonzelle. In ihrer Nähe gehe ich ein paar Minuten gemütlich hin und her. Auch mein folgender Versuch, sie zu erreichen, ist erfolglos. Es sieht so aus, als ob der geplante nette Abend damit gelaufen ist.
Dass ich den Zug verpasst habe, ärgert mich jetzt enorm. Vor Wut trete ich mehrmals mit dem rechten Fuß kräftig auf den Boden und sehe dabei zufällig auf ein handflächengroßes Schild neben dem Telefonapparat. Darauf stehen die Notrufnummern von Feuerwehr und Polizei.
„Die kennt doch jeder auswendig”, ist mein Gedanke und dann frage ich mich, ob die Nummern auch Missbrauch werden. Die Antwort gebe ich mir sofort selber: „Ja klar“.
Als ich mich umdrehe, weil ich die Telefonzelle verlassen will, geht draußen ein junges Paar Hand in Hand an mir vorbei. Es sieht glücklich aus. In mir kommt das Gefühl hoch, auch anderen den Tag zu vermiesen. Es brodelt plötzlich in mir und ich merke, wie mein Kopf heiß wird. Ich überlege nicht, ich handle und wähle die Telefonnummer der Polizei, wo sich sofort jemand meldet.
„Pol…”, mehr kann ich nicht verstehen, denn ich übertöne die Stimme auf der anderen Seite, indem ich sofort loslege. Instinktiv verstelle ich meine Stimme und sage ohne nachzudenken: „Hier im Bahnhof und im Zug nach Köln explodieren gleich Bomben”.
Ich lege auf.
Meine Finger fangen an zu kribbeln und es wird mir bewusst, was ich getan habe.
„Oh Gott.” Meine Hände werden feucht und meine Arme zittern etwas. Innerlich bin ich aufgewühlt. Ich verlasse die Telefonzelle und gehe zum Bahnhof zurück.
Kräftig trete ich gegen die Bahnhofstür. Wie erwartet öffnet sie sich ein Stück. Ich nehme meine linke Hand und gebe ihr einen weiteren Schubs und betrete die Bahnhofshalle.
Beim Durchqueren versuche ich nicht aufzufallen, indem ich mich gelassen gebe. Obwohl ich neugierig bin, schaue ich mich nicht um.
Ich weiß, dass der Zug an diesem Bahnhof seine Reise beginnt und wahrscheinlich bereits am Gleis steht. Und so ist es.
Bevor ich einsteige, lasse ich meinen Kopf nach rechts und links schweifen. „Wann oder wie beginnt die Show? Oder gibt es überhaupt eine?”
Im Zug nehme ich in einem ziemlich leeren Großraumwagen einen freien Zweierplatz am Fenster und werfe einen kurzen Blick auf den Bahnsteig und blättere dann gleichgültig in der Computerzeitschrift. Auf das Lesen kann ich mich nicht konzentrieren. Wenige Minuten später fährt der Zug los. An der nächsten Station – nach etwa fünf Minuten – hält er an, und ich schaue wieder aus dem Fenster.
Fahrgäste steigen ein und aus und der Zug setzt seine Fahrt fort.
Plötzlich muss ich wieder an einen Flugzeugabsturz denken. Und auch an meinen Anruf.
„Da habe ich einen riesigen Mist gebaut. Vielleicht hat die Polizei alles aufgenommen“, fährt es mir durch den Kopf und zugleich bekomme ich Angst. Das Atmen fällt mir schwer. Ich atme unbeabsichtigt eine Weile langsam und dann plötzlich ganz schnell. Schnappatmung! Ich bin mir sicher, meinen Herzschlag zu spüren und lege die Zeitschrift auf den freien Platz neben mir. Mein Herz pocht immer stärker. Daher greife ich mit meiner rechten Hand auf meine linke Brust und lass sie dort. Ich versuche mich zu konzentrieren und meine Gedanken zu sortieren. Nach und nach kehrt wieder Ruhe in mir ein.
„Wenn die Polizei meine Stimme hat, dann hat sie mich noch lange nicht.”
„Steigere Dich nicht rein. Ruhig bleiben. Ruhig bleiben”, sage ich innerlich mehrfach zu mir selbst. Und es wirkt.
„Denk an was anderes” – und das ist mir auch gelungen.
Ich schließe meine Augen und mache mir Gedanken über meine Freundin.
Ich glaube nicht, dass sie am Bahnhof wartet, hoffe aber, dass ich sie gleich telefonisch erreichen werde und wir uns doch noch treffen.
Und ich döse vor mich hin.
„Ist hier Platz?” höre ich von einer Frauenstimme, schrecke auf und öffne die Augen. Im Gang neben mir sehe ich eine korpulente ältere Frau, die mich anschaut.
„Ja natürlich”, antworte ich und merke zugleich, dass sie mich fragen musste, weil meine Zeitschrift den Platz blockiert.
Spontan entscheide ich, dass ich lieber alleine sitze.
„Ich wollte sowieso aufstehen”, sage ich, nehme die Zeitschrift und verlasse meinen Platz sowie das Abteil, das ohne mein Wissen voll geworden ist.
Erst zwei Abteile danach ist es leerer.
Auf einem Vierersitz sitzt ein einzelner Mann. Typ: Anzugträger mit Aktenkoffer.
Er liest das Boulevardblatt, das ich mir nicht gekauft hatte. „Vielleicht steigt er von mir aus und lässt die Zeitung liegen”, hoffe ich.
Ich setze mich ihm gegenüber, lege mein Computermagazin neben mir und schau aus dem Fenster. Mehr als Acker und Bäume, die vorbei huschen, sehe ich nicht. Es langweilt.
Mein Anruf bei der Polizei fällt mir wieder ein und ich frage mich, ob am Bahnhof mittlerweile etwas geschehen ist. Ich bekomme ein schlechtes Gewissen und bereue meinen Anruf.
Ein Gongton ertönt aus dem Lautsprecher im Zugabteil. „Der Zug endet unplanmäßig am nächsten Bahnhof”, lautet die folgende Durchsage. Damit habe ich nicht gerechnet.
„Das ich kein Zufall”, erkenne ich, zucke zusammen und muss erst einmal schlucken. Gefühlsmäßig ist es für mich keine Bahnfahrt mehr, ein Achterbahnfahrt.
„Was soll denn das?”, spricht mein Gegenüber vor sich hin.
Ich scherze mit mir selbst, indem ich ihm im Geiste antworte: „Das kann ich Ihnen leider nicht verraten.”
Ich sehe auf meine Armbanduhr und stelle fest, dass der Zug erst 20 Minuten unterwegs ist.
Mein Magen knurrt. Ich habe Hunger und ärgere mich über mich selbst. „Der Zug hält wegen mir und nun komme ich noch später zu Hause an. Der Schuss geht nach hinten los.”
Die Tür zum Abteil öffnet sich und ich sehe den Schaffner hereinkommen. Er wirkt gestresst.
„Der Zug endet am nächsten Bahnhof”, ruft er unüberhörbar, geht durch das Abteil, an mir vorbei und verlässt es, um zum nächsten zu gelangen.
Der mir gegenüber sitzende Herr schüttelt seinen Kopf und einige Fahrgäste erheben sich.
Ich schaue wieder aus dem Fenster. Der Zug wird langsamer und langsamer.
Ich sehe einen Bahnhof und erschrecke. Neben dem Bahnhof stehen zwei Polizeiwagen. Der Zug hält an, und ich sehe einige Polizisten, die sich auf dem Bahnsteig verteilt haben. Ich werde panisch, aber nur innerlich.
„Sondereinsatzkommando? Vielleicht wissen die doch wer ich bin.” Und es fällt mir plötzlich etwas ein, was mich auch verraten könnte: Meine Fingerabdrücke. Fingerabdrücke in der Telefonzelle.
„Der Zug endet hier. Bitte sofort aussteigen”, ertönt es auf dem Lautsprecher im Zug.
Fast alle hatten das Abteil verlassen und ich sehe, wie die ersten den Zug verließen. Auch der Mann mir gegenüber erhebt sich.
Ich nehme meine Computerzeitschrift in die Hand und rolle sie langsam zusammen.
Am Fenster neben mir klopft es von draußen. Zweimal leise, dann wild und heftig, worauf ich hin sehe. Ein uniformierter Polizist blickt mich an und winkt mich zu sich. Was für ein lächerlicher Panikmacher. Ich stehe auf.
Ich sehe wie der Anzugträger eilig das Abteil verlässt, aber ich sehe noch etwas anderes. Er hat seinen Koffer vergessen.
Ich will ihn rufen, höre aber wieder das Klopfen am Fenster. Daher stehe ich auch auf und gehe unverzüglich bis zum Ende des Abteils, um den Zug zu verlassen. Nur noch ich bin hier.
Die Zugtür steht weit offen und ich sehe einen Polizisten, der draußen auf dem Bahnsteig steht.
„Jetzt kommen Sie endlich raus”, schreit er. Ernst nehmen kann ich ihn nicht. Ein Lächeln und Grinsen verkneife ich mir.
Und es wird dunkel. Ich habe das Gefühl, als ob mein Rücken brennt. Zugleich höre ich einen kräftigen Knall, werde nach vorne geschleudert und spüre, wie meine Stirn auf etwas Hartes aufschlägt.
Ich habe Schmerzen am linken Arm und unvorstellbare an meinen Beinen. Ich will mich bewegen, schaffe es aber nicht. Meine rechte Hand zuckt unkontrolliert.
Ich liege auf dem Boden. Ich öffne die Augen, was mir schwerfällt, und sehe überall Glassplitter und meine Zeitschrift, die einige Meter neben meinem Kopf liegen. Die Blätter werden vom Wind bewegt. Dunkler Qualm liegt in der Luft. Was ist geschehen?
Ich drehe den Kopf, um zu meinen Füßen zu schauen…
Schmerzen nur Schmerzen. Ich will schreien, kann es aber nicht. Alles dreht sich in mir. Die Augenlider werden immer schwerer… und schwerer … und es wird dunkel.
— E N D E —
— ENDE —